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«Ich muss Vollgas geben»
Wie ein 14-jähriger Schulabgänger aus Amriswil dank der erstmals durchgeführten Chancenwoche doch noch eine Lehrstelle findet.
Bericht: Thurgauer Zeitung online - Annina Flaig / 18.02.2025
Er kam pünktlich. Das freut hier alle. Der Drittsekler Tiago Santos* steht in der Werkhalle der Kläsi Fahrzeugbau AG in Amriswil und stiefelt einem bald ausgelernten Fahrzeugschlosser hinterher. Auf dem Arbeitstisch stehen Bohrmaschinen, Aufsätze, Hammer, Schleifgeräte und eine grosse Büchse Keramikfett, geeignet für Bremsbacken, Abgassysteme und Radmuttern.
Angesprochen auf seine schwarz verschmutzten Hände sagt der Fahrzeugschlosser lachend: «Wir sind nicht zimperlich hier.» Tiago eigentlich schon. Der 14-Jährige hat sich vorsichtshalber mal Handschuhe übergezogen. Er trägt an jedem Ohr einen Silberohrring mit einem grossen Diamanten drin. Und er riecht gut. «Ich mag Parfüms», sagt er. Ansonsten erzählt er wenig an diesem frühen Nachmittag und wirkt etwas gehemmt. Darauf angesprochen sagt er: «Schüchtern bin ich eigentlich nicht. Aber ich habe halt oft Angst, etwas Falsches zu sagen.»
Schnell redet dafür der Chef, Jakob Kläsi. Er spricht Klartext: «Wenn Tiago da ist, am Morgen, und das sogar pünktlich, dann können wir etwas aus ihm machen. Er muss motiviert sein und das hier auch wirklich wollen.» Es sei schwierig mit den jungen Leuten heutzutage. «Mal stehen sie voller Tatendrang in der Werkhalle. Am nächsten Tag erscheinen sie nicht mehr und melden sich krank.» Kläsi winkt ab: «Ich finde keine guten Mitarbeitenden mehr, die anpacken können. Es ist schlimm.»
Tiago war auch krank. Der junge Amriswiler schnupperte kürzlich bereits einmal bei Kläsi. Drei Tage lang. Dann meldete er sich ab. «Das war blöd», sagt er und betont: «Aber ich fühlte mich wirklich nicht gut.» Er habe Fieber gehabt. Kläsi gibt ihm eine neue Chance. Tiago will sie packen.
Tiago läuft die Zeit davon
Tiago hat schon fünfmal in verschiedene Berufe reingeschnuppert. Einmal in denjenigen als Konstrukteur, zweimal als Automobil-Mechatroniker und zweimal als Detailhandelsfachmann. Eine Lehrstelle hat sich daraus nicht ergeben. «Teils habe ich Absagen erhalten. Teils wollte ich die Stelle gar nicht, zum Beispiel im Detailhandel», sagt Tiago. Das Herumstehen und Warten, bis Kundschaft kommt und mit dieser dann zu sprechen, sei nicht sein Ding. Das habe er dort gemerkt. Nun steht Tiago ohne Lehrstelle da. Ihm läuft die Zeit davon. In knapp fünf Monaten beendet er die obligatorische Schulzeit. Er ist aber nicht der Einzige, bei dem es mit der Lehrstellensuche harzt. Von 145 Sekundarschülerinnen und -schülern, die kommenden Sommer in Amriswil aus der Schule kommen, haben 28 noch keine Lehrstelle. «Für die Jugendlichen ist das oft eine schwierige Situation», sagt Petra Stoios, «manche stehen enorm unter Druck.» Die Amriswiler Stadträtin hat früher als Sekundarlehrerin gearbeitet und ist Mitglied im Vorstand des Gewerbevereins Amriswil. Daher kennt sie beide Seiten und weiss: «Es gibt derzeit zahlreiche Betriebe, die ihre Lehrstellen nicht besetzen können.»
Darum kam Stoios die Idee für ein zusätzliches Angebot für Dritt-Sek-Schülerinnen und -Schüler, die sich mit der Lehrstellensuche schwertun. «Chancenwoche» heisst die zusätzliche Schnupperwoche, welche der Gewerbeverein in Zusammenarbeit mit den Schulen und dem ortsansässigen Gewerbe heuer zum ersten Mal durchführt. Sie soll Schulabgängerinnen und Schulabgängern wie Tiago die Chance geben, noch einmal irgendwo einen Fuss reinzubekommen und eine Lehrstelle zu finden.
Der Chef redet ihm ins Gewissen
«Wir hoffen das Beste», sagt Tiagos Mutter. Sich im Alter von 14 Jahren für eine Berufsrichtung zu entscheiden, sei früh, betont sie. Ihren Sohn würden im Alltag oft ganz andere Themen beschäftigen. So sei er beispielsweise gerade in Eifersüchteleien mit Mädchen verstrickt, treffe sich oft und gerne mit Freunden und brenne für Fussball und Kickboxen. Ausserdem sei Tiago mit seinen 14 Jahren der Jüngste in der Klasse. Er hat kurz vor dem Stichtag Geburtstag. Seine Mutter findet: «Für meinen Sohn kommt die ganze Berufswahl einfach zu früh.»
Die Schnupperstelle in den Beruf des Fahrzeugschlossers bei der Firma Kläsi hat der Gewerbeverein an Tiago herangetragen. Der 14-Jährige sagt: «Ich kannte den Beruf nicht und musste zuerst Google fragen, was das ist.» Nun hantiert er mit der Flex an einem Transportfahrzeug und hilft mit, den Boden auszuwechseln.
Ein paar Tage später erzählt Jakob Kläsi, dass er mit Tiago und seinen Eltern das Gespräch gesucht und dem 14-Jährigen die Lehrstelle angeboten habe – dies, nicht ohne dem Schulabgänger ins Gewissen zu reden. Tiago sagt nämlich, dass er bis Sommer seinen 4er in Mathematik verbessern will und betont: «Ich weiss, dass ich jetzt Vollgas geben muss.» Dass er während der Chancenwoche eine Lehrstelle gefunden hat, freut ihn riesig.
*Name der Redaktion bekannt
Schulabsentismus und fehlende Reife
In den zwei Oberstufenzentren in Amriswil stehen derzeit immer noch 28 Schülerinnen und Schüler aus der 3. Oberstufe ohne Lehrstelle da. Ist das beunruhigend?
Cristian Jäger*: Nein, im Vergleich zu den letzten Jahren bewegen wir uns aktuell im normalen Rahmen. Erfahrungsgemäss werden einige dieser Schülerinnen und Schüler im Verlauf des Semesters noch eine Lehrstelle finden. Auch in den letzten Schulwochen wurden in der Vergangenheit noch Lehrverträge unterschrieben.
Welches sind Gründe, weshalb die betreffenden Schülerinnen und Schüler noch keine Lehrstelle gefunden haben?
Die Gründe sind vielfältig. Manche Schülerinnen und Schüler sind noch nicht bereit, sich für eine Berufslehre zu entscheiden oder sind zu schüchtern. Teils dauert die Berufsfindung länger, weil Traumvorstellungen und tatsächliches Leistungsvermögen nicht zusammen passen. Leider kommt es auch immer wieder vor, dass Versprechungen nicht eingehalten und Lehrstellen an eine andere Person vergeben werden. Bei manchen hapert es an den Deutschkenntnissen, oder gesundheitliche Probleme erschweren die Lehrstellensuche. In Einzelfällen können auch schlechte Zeugnisse oder mangelnde Motivation und Schulabsentismus Gründe sein.
Wie kann die Schule Schülerinnen und Schülern bei der Suche nach einer Lehrstelle unter die Arme greifen?
Die Schülerinnen und Schüler erhalten ein umfangreiches Unterstützungsangebot. Bereits ab der 1. Sek können Jugendliche, die beim Einstieg in das Berufsleben mehr Unterstützung benötigen, am LIFT-Projekt teilnehmen.
Was beinhaltet das LIFT-Projekt?
Kernelement von LIFT sind die sogenannten Wochenarbeitsplätze in der Region Amriswil. Die Einsätze in den lokalen Betrieben erfolgen auf freiwilliger Basis in der schulfreien Zeit. Im Zentrum steht die frühzeitige Sensibilisierung der Jugendlichen mit der Arbeitswelt.
Welche Unterstützungsangebote gibt es sonst noch?
In der 2. Sek haben alle eine Lektion «berufliche Orientierung» pro Woche. Auch kommt eine Berufsberaterin des Berufsinformationszentrums Amriswil einige Lektionen für Kurzgespräche an die Schule. Eine weitere Besonderheit sind die Förderzentren der Sekundarschulen Amriswil. Hier haben die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, in ihrer Freizeit unter Anleitung von zwei ausgebildeten Lehrpersonen Bewerbungsdossiers zu erstellen und telefonische Gespräche zu führen. Wichtig ist vor allem auch die gute Zusammenarbeit mit den Eltern und dem Gewerbeverein Amriswil. Letzterer ist seit Jahren ein wichtiger Partner, was die berufliche Orientierung unserer Schülerinnen und Schüler betrifft.
Inwiefern?
Neben der Bereitstellung der Wochenarbeitsplätze für das LIFT-Projekt dürfen die Schülerinnen und Schüler während der Berufsinformationsnachmittage in der 1. Sek verschiedenste Berufe kennenlernen. Die Schülerinnen und Schüler der 2. Sek E dürfen zudem an der Handwerkerwoche teilnehmen.
Nun hat der Gewerbeverein dieses Jahr auch noch eine Chancenwoche ins Leben gerufen. Was versprechen Sie sich davon?
Wie der Name schon sagt, ist die Chancenwoche eine weitere Chance für die Schülerinnen und Schüler der 3. Sek G, die noch ohne Lehrstelle da stehen, eine passende Stelle zu finden. Da die Schülerinnen und Schüler auf der einen Seite gezielt in ihren Wunschberufen schnuppern dürfen und die Betriebe aktiv eine Lehrstelle vergeben möchten, sind die Grundvoraussetzungen für den Erfolg der Chancenwoche gegeben. Wir sind gespannt, ob sich daraus für einzelne Jugendliche passende Anschlusslösungen ergeben.
*Cristian Jäger ist Schulleiter und Projektleiter LIFT im Amriswiler Sekundarschulzentrum Grenzstrasse.